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Leo Trotzki
Ihre Moral
und unsere
(Februar 1938)
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HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das
Marxists’ Internet Archive.
Moralausdünstungen
In einer Epoche der
siegreichen Reaktion beginnen die Herren Demokraten, Sozialdemokraten,
Anarchisten und übrigen Vertreter des „linken“ Lagers das Doppelte ihres gewöhnlichen
Quantums von Moralausdünstungen auszuscheiden, gleich Leuten, die vor Furcht
doppelt stark schwitzen. Diese Moralisten wenden sich, indem sie die zehn
Gebote oder die Bergpredigt neu umschreiben, nicht so sehr an die siegreiche
Reaktion, wie an jene Revolutionäre, die unter deren Verfolgung leiden und die
mit ihren „Exzessen“ und „amoralischen“ Grundsätzen die Reaktion „provozieren“
und ihr eine moralische Rechtfertigung geben. Überdies verordnen sie ein
einfaches aber sicheres Mittel, um die Reaktion zu vermeiden: wir müssen nur
danach streben, uns selbst moralisch zu erneuern. Gratismuster moralischer
Vollkommenheit werden von allen beteiligten Redaktionen an Interessenten
abgegeben.
Die Klassenbasis dieser
falschen und hochtrabenden Predigt ist die kleinbürgerliche Intelligenz. Die
politische Basis: deren Ohnmacht und Verwirrung angesichts der herannahenden
Reaktion. Die psychologische Basis: deren Bestreben, das Gefühl der eigenen
Minderwertigkeit zu überwinden, indem sie mit dem Bart des Propheten
Mummenschanz treibt.
Die Lieblingsmethode des
moralisierenden Philisters besteht darin, das Verhalten der Reaktion mit dem
der Revolution zu identifizieren. Dabei erzielt er nur Erfolg, indem er sich
auf formale Analogien stützt. Für ihn sind Zarismus und Bolschewismus
Zwillinge. Ebenso entdeckt er, daß Faschismus und
Kommunismus Zwillinge sind. Er trägt ein Inventar zusammen aus den gemeinsamen
Zügen von Katholizismus – oder genauer von Jesuitismus
– und Bolschewismus. Hitler und Mussolini, die ihrerseits genau die gleiche
Methode benutzen, enthüllen, daß Liberalismus,
Demokratie und Bolschewismus nur verschiedene Erscheinungsformen ein und
desselben Übels sind. Die Auffassung, daß Stalinismus
und Trotzkismus „wesentlich“ ein und dasselbe sind, erfreut sich jetzt der
vereinten Zustimmung von Liberalen, Demokraten, frommen Katholiken, Idealisten,
Pragmatikern und Anarchisten. Die Stalinisten sind offenbar nur deshalb nicht
in der Lage, sich dieser „Volksfront“ anzuschließen, weil sie zufällig mit der
Ausrottung der Trotzkisten beschäftigt sind.
Charakteristisch für diese
Analogien und Ähnlichkeiten ist, daß man bei ihrer
Anwendung die materielle Grundlage der verschiedenen Strömungen, d.h. deren
Klassennatur und dadurch deren objektive historische Rolle, vollständig
ignoriert. Stattdessen nimmt man irgendeine äußerliche und zweitrangige
Erscheinung zum Ausgangspunkt der Beurteilung und Wertung der verschiedenen
Strömungen, und zwar meistens deren Verhältnis zu irgendeinem abstrakten
Prinzip, welches für den betreffenden Kritiker einen besonderen berufsmäßigen
Wert besitzt. So sind Freimaurer, Darwinisten, Marxisten und Anarchisten für
den römischen Papst Zwillinge, weil sie alle gotteslästerlich die unbefleckte
Empfängnis leugnen. Für Hitler sind Liberalismus und Marxismus Zwillinge, weil
sie nichts von „Blut und Ehre“ wissen wollen. Für einen Demokraten sind
Faschismus und Bolschewismus Zwillinge, weil sie sich nicht dem allgemeinen
Stimmrecht unterwerfen. Und so weiter. Unzweifelhaft haben die oben
zusammengestellten Strömungen einige gemeinsame Züge. Aber der Kern der Sache
liegt darin, daß sich die Entwicklung der Menschheit
weder im allgemeinen Stimmrecht noch in „Blut und Ehre“, noch im Dogma der
unbefleckten Empfängnis erschöpft. Der historische Prozeß
drückt in erster Linie den Klassenkampf aus; überdies wenden verschiedene
Klassen im Namen verschiedener Ziele in gewissen Augenblicken gleiche Mittel
an. Im Wesen kann es gar nicht anders sein. Einander bekämpfende Heere sind
immer mehr oder weniger symmetrisch; gäbe es nichts Gemeinsames in ihren
Kampfmethoden, könnten sie einander keine Schläge zufügen.
Ein unwissender Bauer oder
Krämer, der weder den Ursprung noch den Sinn des Kampfes zwischen Proletariat und
Bourgeoisie begreift, wird, wenn er entdeckt, daß er
sich zwischen den beiden Feuern befindet, beide kriegführenden Lager mit dem
gleichen Haß betrachten.
Und wer sind alle diese
demokratischen Moralisten? Ideologen der Zwischenschichten, die zwischen die
beiden Feuer geraten sind, oder sich vor diesem Schicksal fürchten.
Verständnislosigkeit gegenüber den großen historischen Bewegungen, eine
verhärtete konservative Mentalität, selbstzufriedene Beschränktheit und
primitivste politische Feigheit zeichnen die Propheten dieses Typus aus. Mehr
als alles andere wünscht der Moralist, die Geschichte möge ihn mit seinen
Büchlein, kleinen Zeitschriften, Abonnements, seinem gesunden Menschenverstand
und seinen moralischen Schreibheften in Ruhe lassen. Aber die Geschichte läßt ihn nicht in Ruhe. Sie pufft ihn bald von links und
bald von rechts. Es ist klar: Revolution und Reaktion, Zarismus und
Bolschewismus, Kommunismus, Stalinismus und Trotzkismus – das alles sind
Zwillinge. Wer immer daran zweifelt, der mag die symmetrischen Beulen auf der
rechten wie auf der linken Schädelhälfte unserer Moralisten nachfühlen.
Marxistische Amoral und ewige
Wahrheiten
Die volkstümlichste und
eindrucksvollste der gegen die bolschewistische „Amoral“ gerichteten Anklagen
gründet sich auf die sogenannte jesuitische Maxime des Bolschewismus: „Der
Zweck heiligt die Mittel“. Von hier aus ist es nicht weit zur nächsten Schlußfolgerung: da die Trotzkisten, wie alle Bolschewiken
(oder Marxisten), die Prinzipien der Moral nicht anerkennen, gibt es folglich
keinen „prinzipiellen“ Unterschied zwischen Trotzkismus und Stalinismus. Was zu
beweisen war.
Eine ganz und gar vulgäre und
zynische amerikanische Monatsschrift veranstaltete eine Enquête
über die Moralphilosophie des Bolschewismus. Die Enquête
hatte, wie gebräuchlich, gleichzeitig den Zielen der Ethik wie denen der
Reklame zu dienen. Der unnachahmliche H.G. Wells, dessen große Einbildungskraft
nur durch seine homerische Selbstzufriedenheit übertroffen wird, zögerte nicht,
sich mit den reaktionären Snobs des Common Sense zu solidarisieren. Insofern
war alles in Ordnung. Aber selbst solche Teilnehmer, die es für notwendig
hielten, den Bolschewismus zu verteidigen, taten dies in der Mehrzahl der Fälle
nicht ohne schüchterne Ausflüchte (Eastman). Die Grundsätze des Marxismus sind
natürlich schlecht, aber unter den Bolschewiken gab es nichtsdestoweniger
wertvolle Leute. Wahrhaftig, solche „Freunde“ sind gefährlicher als Feinde.
Könnten wir uns dazu
entschließen, die Herren Entlarver ernst zu nehmen,
dann müßten wir sie an erster Stelle fragen: Was sind
eure eignen moralischen Prinzipien? Das ist eine Frage, auf die wir kaum eine
Antwort erhalten werden. Nehmen wir für einen Augenblick an, weder persönliche
noch soziale Ziele könnten die Mittel heiligen. Dann ist es offenbar notwendig,
Kriterien außerhalb der historischen Gesellschaft und der Ziele, die sie sich
im Laufe ihrer Entwicklung steckt, zu suchen. Aber wo? Wenn nicht auf Erden, so
im Himmel. Die Pfaffen haben seit langem unfehlbare Moralkriterien in der
göttlichen Offenbarung entdeckt. Kleine weltliche Pfaffen reden über ewige
moralische Wahrheiten, ohne deren Ursprung zu erwähnen. Wir sind jedoch zu dem Schluß berechtigt: da diese Wahrheiten ewig sind, müssen
sie nicht nur vor der Erscheinung des Halbaffen-Halbmenschen auf der Erde,
sondern sogar vor der Entstehung des Sonnensystems existiert haben. Woher sind
sie also gekommen? Die Theorie der ewigen Moral kann keineswegs ohne Gott
bestehen.
Sofern sich die Moralisten
der angelsächsischen Schule nicht auf den rationalistischen Utilitarismus, die
Ethik der bürgerlichen Buchführung beschränken, erscheinen sie alle als die bewußten oder unbewußten Schüler
des Grafen Shaftesbury, der – zu Anfang des 18.
Jahrhunderts! – die Moralurteile von einem besonderen „moralischen Sinn“
ableitete, der nach seiner Voraussetzung dem Menschen ein für allemal verliehen
war. Eine Moral über den Klassen führt unvermeidlich zu der Anerkennung einer
besonderen Substanz, eines „moralischen Sinns“ oder „Gewissens“, zur
Anerkennung von irgendetwas Absolutem, was nichts anderes ist als das
philosophisch-feige Synonym für Gott. Wenn wir die Moral unabhängig von den
„Zielen“, d.h. von der Gesellschaft betrachten, erweist sie sich letzten Endes,
gleichgültig ob wir sie von „ewigen Wahrheiten“ oder von der „menschlichen
Natur“ ableiten, als eine Form der „Naturtheologie“. Der Himmel bleibt die
einzige befestigte Position für militärische Operationen gegen den
dialektischen Materialismus.
Zu Ende des letzten
Jahrhunderts entstand in Rußland eine ganze Schule
von „Marxisten“, (Struwe, Berdjaew,
Bulgakow u.a.), die die marxistische Lehre mit einem
sich selbst genügenden, d.h. über den Klassen stehenden moralischen Prinzip zu
ergänzen wünschten. Diese Leute begannen natürlich mit Kant und dem
kategorischen Imperativ. Wie aber endeten sie? Struwe
ist heute Minister a.D. des Barons Wrangel und ein
treuer Sohn der Kirche; Bulgakow ist ein orthodoxer Priester; Berdjaew legt die Apokalypse in verschiedenen Sprachen aus.
Diese auf den ersten Blick überraschenden Wandlungen erklären sich keineswegs
durch die „slawische Seele“ – Struwe hat eine
deutsche Seele – sondern durch die Wucht des sozialen Kampfes in Rußland. Der Grundzug dieser Metamorphose ist im
wesentlichen international.
Der klassische philosophische
Idealismus stellte, insoweit er seinerzeit versuchte, die Moral zu
verweltlichen, d.h. von ihrer religiösen Sanktion zu befreien, einen gewaltigen
Schritt vorwärts dar (Hegel). Aber nachdem sich die Moralphilosophie vom Himmel
losgelöst hatte, mußte sie irdische Wurzeln finden.
Es war eine der Aufgaben des Materialismus, diese Wurzeln zu entdekken. Nach Shaftesbury kam
Darwin, nach Hegel – Marx. Wer heute an „ewige moralische Wahrheiten“ appelliert,
versucht, das Rad rückwärts zu drehen. Der philosophische Idealismus ist nur
ein Übergangsstadium: von der Religion zum Materialismus, oder umgekehrt, vom
Materialismus zur Religion.
“Der Zweck heiligt die Mittel“
Der Jesuitenorden, der in der
ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zur Bekämpfung des Protestantismus gegründet
wurde, lehrte übrigens niemals, daß jedes Mittel,
selbst wenn es vom Gesichtspunkt der katholischen Moral verbrecherisch war,
erlaubt sei, wenn es nur zum „Ziel“, d.h. zum Triumph des Katholizismus führe.
Solch eine innerlich widerspruchsvolle und psychologisch absurde Lehre wurde
den Jesuiten von ihren protestantischen und teilweise katholischen Gegnern
böswillig zugeschrieben, die sich in der Wahl der Mittel, um ihre Ziele zu erreichen,
nicht genierten. Die jesuitischen Theologen, die sich wie die Theologen anderer
Schulen mit der Frage der persönlichen Verantwortung befaßten,
lehrten in Wirklichkeit, daß das Mittel an sich eine
gleichgültige Angelegenheit sein kann, und daß die
moralische Berechtigung oder Beurteilung des gegebenen Mittels sich aus dem
Ziel ergibt. So ist Schießen an und für sich eine neutrale Angelegenheit;
Schießen auf einen tollen Hund, der ein Kind bedroht – eine Tugend; Schießen
mit dem Ziel zu verletzen oder zu morden – ein Verbrechen. Die Ausführungen der
Theologen dieses Ordens gingen über solche Gemeinplätze nicht hinaus.
Was ihre praktische
Moralphilosophie angeht, waren die Jesuiten keineswegs schlimmer als andere
Mönche oder katholische Priester, sie waren ihnen im Gegenteil überlegen;
jedenfalls waren sie ausdauernder, kühner und scharfsichtiger. Die Jesuiten
stellten eine streng zentralisierte, aggressive, kämpferische Organisation dar,
die nicht nur für die Feinde, sondern auch für die Verbündeten gefährlich war.
In seiner Psychologie und in der Methode seines Handelns unterschied sich der
Jesuit der „heroischen“ Periode von einem durchschnittlichen Pfaffen wie der
Krieger der Kirche von ihrem Krämer. Wir haben keinen Grund, einen der beiden
zu idealisieren. Aber es ist ganz und gar unwürdig, einen fanatischen Krieger
mit den Augen eines stumpfen und trägen Krämers zu betrachten. Wenn wir auf der
Ebene der rein formalen oder psychologischen Verwandtschaften verbleiben, dann
kann man, wenn man will, sagen, daß die Bolschewiki
sich zu den Demokraten und Sozialdemokraten aller Schattierungen verhalten wie
die Jesuiten zur friedlichen Hierarchie. Im Vergleich zu den revolutionären
Marxisten erscheinen die Sozialdemokraten und Zentristen wie Minderjährige oder
wie der Quacksalber im Vergleich zum Arzt: sie denken kein einziges Problem bis
zu Ende, glauben an die Macht der Beschwörung, gehen feig jeder Schwierigkeit
aus dem Weg und hoffen auf ein Wunder. Die Opportunisten sind die friedlichen
Krämer der sozialistischen Idee, während die Bolschewiki ihre eingefleischten
Krieger sind. Daher der Haß und die Verleumdung gegen
die Bolschewiki von Seiten derer, die ihre historisch bedingten Schwächen im Überfluß, jedoch keinen einzigen ihrer Vorzüge besitzen.
Immerhin bleibt jedoch die
Nebeneinanderstellung von Bolschewismus und Jesuitismus
völlig einseitig und oberflächlich und ist eher literarischer als historischer
Natur. Geht man von Charakter und Interessen derjenigen Klassen aus, auf die
sich Jesuiten und Protestanten stützen, so stellten erstere die Reaktion und
letztere den Fortschritt dar. Die Begrenztheit dieses „Fortschritts“ fand
wiederum ihren direkten Ausdruck in der Sittenlehre der Protestanten. So
hinderten den Stadtbürger Luther die von ihm „gereinigten“ Lehren Christi
keineswegs daran, dazu aufzurufen, die aufständischen Bauern wie „tolle Hunde“
niederzumachen. Dr. Martin war offenbar, noch bevor dieser Grundsatz den
Jesuiten zugeschrieben wurde, der Ansicht, „der Zweck heilige die Mittel“. Die
mit dem Protestantismus konkurrierenden Jesuiten paßten
sich ihrerseits in steigendem Maße dem Geist der bürgerlichen Gesellschaft an,
und von den drei Gelübden: Armut, Keuschheit und Gehorsam, blieb nur das dritte
übrig und das sogar in äußerst abgemilderter Form. Vom Standpunkt des
christlichen Ideals verfiel die Moral der Jesuiten in dem Maße, wie sie
aufhörten, Jesuiten zu sein. Die Krieger der Kirche wurden ihre Bürokraten und,
wie alle Bürokraten, leidliche Spitzbuben.
Jesuitismus und
Utilitarismus
Diese kurze Diskussion genügt
vielleicht, um zu zeigen, wieviel Unwissenheit und
Beschränktheit erforderlich sind, um ernsthaft das „jesuitische“ Prinzip: „Der
Zweck heiligt die Mittel“, einer anderen, scheinbar höheren Moral
gegenüberzustellen, in der jedes „Mittel“ sein eigenes Moraletikett trägt etwa
wie eine Ware mit festen Preisen in einem Spezialgeschäft. Bemerkenswert ist, daß der gesunde Menschenverstand des angelsächsischen
Philisters es fertig gebracht hat, sich über das „jesuitische“ Prinzip zu
entrüsten und gleichzeitig sich an der für die britische Philosophie so
charakteristischen utilitaristischen Sittenlehre zu inspirieren. Denn das
Kriterium Benthams und John Mills: „Das größtmögliche
Glück für die größtmögliche Anzahl“, bedeutet, daß
diejenigen Mittel sittlich sind, die zur allgemeinen Wohlfahrt als dem höheren
Ziel führen. Der angelsächsische Utilitarismus stimmt also in seinen generellen
philosophischen Formulierungen völlig mit dem „jesuitischen“ Prinzip: „Der
Zweck heiligt die Mittel“, überein. Der Empirismus existiert demnach, wie wir
sehen, nur zu dem Zweck in der Welt, um uns von der Notwendigkeit zu befreien,
die Dinge miteinander ins Reine zu bringen.
Herbert Spencer, dessen
Empirismus Darwin mit der Idee der Evolution impfte, wie man gegen Pocken
impft, lehrte, daß in der Sphäre der Moral die
Entwicklung von „Empfindungen“ zu „Ideen“ fortschreitet. Die Empfindungen
richten sich nach dem Kriterium des unmittelbaren Vergnügens, während die Ideen
gestatten, sich von dem Kriterium des zukünftigen, dauernden und höheren
Vergnügens leiten zu lassen. „Vergnügen“ oder „Glück“ ist also auch hier
Kriterium der Moral.
Aber die Breite und Tiefe des
Inhalts dieses Kriteriums hängt von dem Maßstab der „Entwicklung“ ab. Auf diese
Weise bewies auch Herbert Spencer durch die Methoden seines eigenen
„evolutionären“ Utilitarismus, daß das Prinzip: der
Zweck heiligt die Mittel, nichts Unmoralisches enthält.
Es wäre jedoch naiv, von
diesem abstrakten „Prinzip“ eine Antwort auf die praktische Frage zu erwarten:
was dürfen wir tun und was nicht? Überdies wirft natürlich das Prinzip, der
Zweck heiligt die Mittel, die Frage auf: und was heiligt das Ziel? Im
praktischen Leben wie im Verlauf der Geschichte verändern Ziel und Mittel
fortlaufend ihre Stellung. Eine im Bau befindliche Maschine ist nur insofern
ein „Ziel“ der Produktion, wie sie in eine andere Fabrik als „Mittel“ eingeht.
Die Demokratie ist in gewissen Perioden das „Ziel“ des Klassenkampfes nur, um
danach in sein Mittel verwandelt zu werden. Enthält das jesuitische Prinzip
auch nichts Unmoralisches, so ist es jedoch andererseits weit davon entfernt,
das Problem der Moral zu lösen.
Der „evolutionäre“
Utilitarismus Spencers läßt uns ebenfalls auf halbem
Wege ohne Antwort stehen, da er, Darwin folgend, versucht, die konkrete
historische Moral in den für ein Herdentier charakteristischen biologischen
Bedürfnissen oder „sozialen Instinkten“ aufzulösen, während der Begriff der
Moral selbst erst in einem antagonistischen Milieu, d.h. in einer von Klassen
zerrissenen Gesellschaft, entsteht.
Der bürgerliche Evolutionarismus bleibt auf der Schwelle der historischen
Gesellschaft ohnmächtig stehen, weil er die treibende Kraft in der Entwicklung
historischer Formen, den Klassenkampf, nicht erkennen will. Die Moral ist nur
eine der ideologischen Funktionen in diesem Kampf. Die herrschende Klasse
zwingt ihre Ziele der Gesellschaft auf und gewöhnt sie daran, alle solche
Mittel, die ihren Zielen widersprechen, als unmoralisch anzusehen. Das ist die
wichtigste Funktion der offiziellen Sittenlehre. Sie verfolgt die Idee des
„größtmöglichen Glücks“ nicht für die Mehrheit, sondern für eine sich ständig
verringernde Minderheit. Durch Gewalt allein könnte sich ein solches Regime
auch nicht eine Woche lang halten. Es braucht den moralischen Zement. Das
Mischen dieses Zements bildet den Beruf der kleinbürgerlichen Theoretiker und
Moralisten. Sie schillern zwar in allen Regenbogenfarben, letzten Endes bleiben
sie jedoch ohne Ausnahme Apostel der Sklaverei und der Unterwerfung.
„Moralvorschriften, die für alle
bindend sind.“
Wer nicht zu Moses, Christus
oder Mohammed zurückkehren will und wer nicht mit eklektischem Hokuspokus
zufrieden ist, muß einsehen, daß
die Moral ein Produkt der historischen Entwicklung ist, daß
es in ihr nichts Unveränderliches gibt, daß sie
sozialen Interessen dient, daß diese Interessen
widerspruchsvoll sind, daß die Moral mehr als
irgendeine andere ideologische Form Klassencharakter trägt.
Aber existieren denn keine
elementaren moralischen Vorschriften, die sich in der Entwicklung der
Menschheit als integraler Bestandteil der Existenz jeder kollektiven
Körperschaft herausgebildet haben? Solche Vorschriften existieren
unzweifelhaft, aber ihr Aktionsradius ist äußerst begrenzt und unstabil. Je
schärferen Charakter der Klassenkampf annimmt, desto wirkungsloser werden die
Normen, die „für alle bindend sind.“ Der Kulminationspunkt des Klassenkampfes
ist der Bürgerkrieg, der alle moralischen Bande zwischen den feindlichen
Klassen in die Luft sprengt.
Unter „normalen“ Bedingungen
befolgt ein „normaler“ Mensch das Gebot: „Du sollst nicht töten.“ Aber wenn er
unter der anormalen Bedingung der Notwehr tötet, verzeiht ihm der Richter seine
Handlung. Wenn er das Opfer eines Mörders wird, wird das Gericht den Mörder
töten. Die Notwendigkeit der Handlung des Gerichts als einer Selbstverteidigung
ergibt sich aus antagonistischen Interessen. Was den Staat angeht, so
beschränkt er sich in Friedenszeiten auf vereinzelte Fälle des legalisierten
Mords, um in Kriegszeiten das „bindende“ Gebot: „Du sollst nicht töten“ in sein
Gegenteil zu verwandeln. Die „humansten“ Regierungen, die in Friedenszeiten den
Krieg „verabscheuen“, erklären während des Krieges die Ausrottung einer
größtmöglichen Zahl von Menschen zur höchsten Pflicht ihrer Armeen.
Die sogenannten „allgemein
anerkannten“ Moralvorschriften haben im Wesen der Sache einen algebraischen,
d.h. unbestimmten Charakter. Sie drücken nur die Tatsache aus, daß der Mensch in seinem individuellen Benehmen durch eine
gewisse Anzahl allgemeiner Normen gebunden ist, die sich aus seiner Existenz
als Mitglied der Gesellschaft ergeben. Die höchste Verallgemeinerung dieser
Normen ist der kategorische Imperativ von Kant. Aber trotz der Tatsache, daß dieser Imperativ einen hohen Rang im philosophischen
Olymp einnimmt, enthält er nichts Kategorisches, weil er nichts Konkretes
enthält. Er ist eine Schale ohne Kern.
Diese Leere in den für alle
bindenden Vorschriften ergibt sich aus der Tatsache, daß
die Menschen in allen entscheidenden Fragen ihre Klassenzugehörigkeit bedeutend
tiefer und direkter empfinden als ihre Zugehörigkeit zur „Gesellschaft“. Die
„bindenden“ Moralvorschriften besitzen in Wirklichkeit Klasseninhalt. Das heißt
einen antagonistischen Inhalt. Die sittliche Norm wird um so kategorischer, je
weniger sie für alle bindend ist. Die Solidarität der Arbeiter, im besonderen
der Streikenden oder Barrikadenkämpfer, ist unvergleichlich „kategorischer“ als
die menschliche Solidarität im allgemeinen.
Die Bourgeoisie, die das
Proletariat an Vollständigkeit und Unversöhnlichkeit des Klassenbewußtseins
bei weitem übertrifft, hat ein Lebensinteresse daran, ihre Moralphilosophie den
ausgebeuteten Massen aufzuzwingen. Eben zu diesem Zweck werden die konkreten
Vorschriften des bürgerlichen Katechismus hinter moralischen Abstraktionen
versteckt, die dem Patronat von Religion, Philosophie oder von jenem Bastard,
den man „gesunden Menschenverstand“ nennt, unterstellt werden. Der Appell an
abstrakte Normen ist kein uneigennütziger philosophischer Fehler, sondern ein
notwendiges Element in der Mechanik des Klassenbetrugs. Die Entlarvung dieses
Betrugs, der über eine vieltausendjährige Tradition
verfügt, gehört zur obersten Pflicht des proletarischen Revolutionärs.
Die Krise der Demokratischen Moral
Um den Sieg ihrer Interessen
in großen Fragen zu sichern, sind die herrschenden Klassen bereit, in
zweitrangigen Fragen Konzessionen zu machen, natürlich nur so lange, wie sich
diese Konzessionen mit der Buchführung vertragen. In der Epoche des
kapitalistischen Aufschwungs, besonders in den letzten Jahrzehnten vor dem
Weltkrieg, waren diese Konzessionen durchaus real, zum mindesten in Bezug auf
die oberen Schichten des Proletariats. Die Industrie dehnte sich zu dieser Zeit
fast ununterbrochen aus. Der Reichtum der zivilisierten Nationen und teilweise
auch der arbeitenden Massen wuchs an. Die Demokratie schien gesichert. Die
Arbeiterorganisationen wuchsen. Gleichzeitig vertieften sich die
reformistischen Tendenzen. Die Beziehungen zwischen den Klassen nahmen,
wenigstens äußerlich, an Spannung ab. So entstanden parallel mit den Normen der
Demokratie und den Gewohnheiten der Klassenzusammenarbeit gewisse elementare
Moralvorschriften in den Gesellschaftsbeziehungen. Der Eindruck einer stets
freier, gerechter und menschlicher werdenden Gesellschaft wurde geschaffen. Die
aufsteigende Linie des Fortschritts schien dem „gesunden Menschenverstand“
unendlich.
Stattdessen brach jedoch der
Krieg aus mit seinem Gefolge von Erschütterungen, Krisen, Katastrophen,
Epidemien und Bestialitäten. Das Wirtschaftsleben der Menschheit geriet in eine
Sackgasse. Die Klassengegensätze traten scharf und nackt hervor. Die
Sicherheitsventile der Demokratie begannen eins nach dem anderen zu
explodieren. Die elementaren Moralvorschriften erwiesen sich gar noch zerbrechlicher
als die demokratischen Einrichtungen und die reformistischen Illusionen.
Lügenhaftigkeit, Verleumdung, Bestechung, Käuflichkeit, Zwang und Mord nahmen
ungeahnte Ausmaße an. Dem verdutzten Einfaltspinsel erschienen alle diese
Laster als ein vorübergehendes Resultat des Krieges. In Wirklichkeit handelt es
sich um Erscheinungen des imperialistischen Niedergangs. Der Verfall des
Kapitalismus bestimmt den Verfall der heutigen Gesellschaft mit ihrem Recht und
ihrer Moral.
Die „Synthese“ der imperialistischen
Schändlichkeit ist der Faschismus, das direkte Resultat des Bankerotts
der bürgerlichen Demokratie angesichts der Aufgaben der imperialistischen
Epoche. Rudimente der Demokratie existieren nur noch in den reichen
kapitalistischen Aristokratien: Auf jeden „Demokraten“ in England, Frankreich,
Holland und Belgien kommt eine bestimmte Anzahl von Kolonialsklaven: „60
Familien“ beherrschen die Demokratie der Vereinigten Staaten, und so weiter.
Überdies befinden sich faschistische Schößlinge in
allen Demokratien in raschem Wachstum. Der Stalinismus ist einerseits das
Produkt des imperialistischen Drucks auf einen rückständigen und isolierten
Arbeiterstaat, der auf seine Art ein symmetrisches Komplement zum Faschismus
darstellt. Während idealistische Philister – die Anarchisten natürlich immer an
der Spitze – in ihrer Presse unermüdlich die marxistische „Amoral“ entlarven,
geben die amerikanischen Trusts, nach Angabe von John L. Lewis (CIO), nicht
weniger als 80 Millionen Dollar im Jahr für den praktischen Kampf gegen die
revolutionäre „Demoralisierung“ aus, d.h. für Spionage, Bestechung von
Arbeitern, Justizverbrechen und heimliche Morde. Der kategorische Imperativ
wählt bisweilen Umwege, um zum Sieg zu gelangen! Der Gerechtigkeit halber
wollen wir zugeben, daß die ehrlichsten und
gleichzeitig beschränktesten kleinbürgerlichen
Moralisten selbst heute noch in der idealisierten Erinnerung an die
Vergangenheit und in der Hoffnung auf ihre Rückkehr leben. Sie verstehen nicht,
daß die Moral eine Funktion des Klassenkampfes ist, daß die demokratische Moral der Epoche des liberalen und
fortschrittlichen Kapitalismus entspricht, daß die
Zuspitzung des Klassenkampfes, der seine letzte Phase durchläuft, diese Moral
endgültig und unwiderruflich zerstört hat, daß an
ihre Stelle einerseits die Moral des Faschismus, andererseits die Moral der
proletarischen Revolution trat.
„Der gesunde Menschenverstand“
Die Demokratie und die
„allgemein anerkannte“ Moral sind nicht die alleinigen Opfer des Imperialismus.
Der dritte leidende Märtyrer ist der „universale“ gesunde Menschenverstand.
Diese niedrigste Form des Intellekts ist nicht nur unter allen Umständen
absolut erforderlich, sondern unter gewissen Umständen auch ausreichend. Das
grundlegende Kapital des gesunden Menschenverstandes besteht aus den
elementaren Schlüssen der allgemeinen Erfahrung: man soll seine Finger nicht
ins Feuer stecken, möglichst eine gerade Linie einschlagen, keinen bissigen
Hund reizen... und so weiter und so fort. In einem stabilen sozialen Milieu reicht
der gesunde Menschenverstand aus, um Geschäfte zu machen, Kranke zu heilen,
Artikel zu schreiben, Gewerkschaften zu leiten, im Parlament abzustimmen, sich
zu verheiraten und die Rasse zu erneuern. Aber wenn derselbe gesunde
Menschenverstand versucht, die ihm gesetzten Grenzen zu überschreiten, und die
Ebene komplexer Verallgemeinerung betritt, erweist er sich als eine Anhäufung
von Vorurteilen einer bestimmten Klasse und einer bestimmten Epoche. Schon eine
gewöhnliche kapitalistische Krise bringt den gesunden Menschenverstand in eine
Sackgasse; und gegenüber solchen Katastrophen wie Revolution, Konterrevolution
und Krieg entlarvt sich der gesunde Menschenverstand als vollkommener Narr. Um
die katastrophalen Störungen des „normalen“ Ablaufs der Dinge zu erfassen, ist
jene höhere Qualität des lntellekts erforderlich, die
bisher ihren philosophischen Ausdruck nur im dialektischen Materialismus
gefunden hat.
Max Eastman, der mit Erfolg
versucht, den „gesunden Menschenverstand“ mit einem äußerst anziehenden literarischen
Stil auszustatten, hat den Kampf gegen die Dialektik zu nichts weniger als
seinem Beruf gemacht. Eastman hält ernsthaft die Verkupplung der konservativen
Banalitäten des gesunden Menschenverstandes mit gutem Stil für „die
Wissenschaft der Revolution“. Indem er die reaktionären Snobs des Common Sense
unterstützt, offenbart er der Menschheit mit unnachahmlicher Sicherheit: hätte
Trotzki sich statt von der marxistischen Doktrin vom gesunden Menschenverstand
leiten lassen, er würde ... die Macht nicht verloren haben. Jene innere
Dialektik, die bisher in der unvermeidlichen Aufeinanderfolge bestimmter
Stadien in allen Revolutionen aufgetreten ist, existiert für Eastman nicht. Für
ihn erklärt sich die Ablösung der Revolution durch die Reaktion durch ungenügenden
Respekt vor dem gesunden Menschenverstand. Eastman versteht nicht, daß es gerade Stalin war, der historisch gesehen dem
gesunden Menschenverstand, d.h. dessen Unzulänglichkeit, zum Opfer fiel, weil
die von ihm ausgeübte Macht dem Bolschewismus feindlichen Zielen dient.
Andererseits erlaubte uns die marxistische Doktrin, uns rechtzeitig von der thermidorianischen Bürokratie zu trennen und weiterhin den
Zielen des internationalen Sozialismus zu dienen.
Jede Wissenschaft, und in
diesem Sinne also auch die „Wissenschaft der Revolution“, wird durch die
Erfahrung geprüft. Da Eastman so gut weiß, wie man die revolutionäre Macht
unter der Bedingung der Weltreaktion behält, weiß er hoffentlich auch, wie man
die Macht erobert. Es wäre sehr zu wünschen, daß er
endlich seine Geheimnisse enthüllt. Am besten würde er dies in der Form eines
Programmentwurfs für eine revolutionäre Partei tun unter dem Titel: Wie erobern
und behalten wir die Macht? Wir fürchten jedoch, daß
gerade der gesunde Menschenverstand Eastman von solch einem gefährlichen
Unternehmen abhalten wird. Und in diesem Falle müssen wir dem gesunden
Menschenverstand Recht geben.
Die marxistische Doktrin, die
Eastman leider niemals verstand, gestattete uns vorauszusehen, daß unter gewissen historischen Umständen der Sowjetthermidor mit einem ganzen Gefolge von Verbrechen
unvermeidlich war. Dieselbe Doktrin hat seit langem den Niedergang der
bürgerlichen Demokratie und ihrer Moral vorausgesagt. Die Doktrinäre des
„gesunden Menschenverstands“ dagegen wurden von Faschismus und Stalinismus
überrumpelt. Der gesunde Menschenverstand arbeitet mit unveränderlichen Größen
in einer Welt, wo nur die Veränderung beständig ist. Die Dialektik dagegen
begreift alle Erscheinungen, Einrichtungen und Normen in ihrem Entstehen,
Bestehen und Vergehen. Die dialektische Auffassung der Moral als eines
abhängigen und vergänglichen Produktes des Klassenkampfes erscheint dem
gesunden Menschenverstand als „amoralische“. Und doch gibt es nichts Flacheres,
Schaleres, Selbstzufriedeneres und Zynischeres als die Moralvorschriften des
gesunden Menschenverstandes!
Die Moralisten der GPU
Die Moskauer Prozesse gaben Anlaß zu einem Kreuzzug gegen die „Amoral“ des
Bolschewismus. Dieser Kreuzzug begann jedoch keineswegs sofort. Die Wahrheit
ist, daß die Moralisten in ihrer Mehrzahl die
direkten oder indirekten Freunde des Kremls waren. Als solche versuchten sie
lange, ihre Bestürzung zu verstecken, und taten gar, als ob nichts
Ungewöhnliches geschehen sei. Und doch waren die Moskauer Prozesse alles andere
als ein Zufall. Servile Unterwürfigkeit, Heuchelei, der offizielle Kult der
Lüge, Bestechung und andere Formen der Korruption begannen bereits in den
Jahren 1924-25 offensichtlich in Moskau aufzublühen. Die zukünftigen
Justizverbrechen wurden offen vor den Augen der ganzen Welt vorbereitet. Es
fehlte nicht an Warnungen. Die „Freunde“ zogen jedoch vor, nichts zu sehen.
Kein Wunder: die Mehrzahl dieser Herren stand seinerzeit der Oktoberrevolution
in unversöhnlicher Feindschaft gegenüber und versöhnte sich erst mit der
Sowjetunion in dem Maße, wie ihre thermidorianische
Entartung fortschritt: die kleinbürgerlichen Demokraten des Westens erkannten
in den kleinbürgerlichen Demokraten des Ostens verwandte Seelen.
Glaubten diese Leute wirklich
an die Moskauer Beschuldigungen? Nur die Allerbeschränktesten.
Die anderen wollten sich nur durch Aufdeckung der Wahrheit aus der Ruhe bringen
lassen. Ist es vernünftig, auf die schmeichelhafte, bequeme und oft gut
bezahlte Freundschaft mit den Sowjetgesandtschaften zu verzichten? Überdies –
oh, das vergaßen sie nicht! – kann die indiskrete Wahrheit dem Prestige der
Sowjetunion schaden. Diese Leute deckten die Verbrechen auf Grund von
zweckmäßigen Betrachtungen, d.h. sie wandten bedenkenlos das Prinzip an: Der
Zweck heiligt die Mittel.
Der Kronanwalt Pritt, der gerade zur rechten Zeit der stalinistischen Themis unter den Rock blicken durfte und dort alles in
Ordnung fand, übernahm die schamlose Initiative. Romain
Rolland dessen moralische Autorität vom Staatsverlag
der Sowjetunion hoch taxiert wird, beeilte sich, eins seiner Manifeste
loszulassen, in denen sich melancholische Lyrik mit senilem Zynismus vereint.
Die französische Liga für Menschenrechte, die 1917 über „die Amoral Lenins und
Trotzkis“ wetterte, als diese das Militärbündnis mit Frankreich brachen,
zögerte nicht, Stalins Verbrechen im Jahre 1936 im Interesse des
französisch-russischen Abkommens zu decken. Ein patriotischer Zweck heiligt
bekanntlich jedes Mittel. Die amerikanischen Zeitschriften The Nation und The New Republic
schlossen vor Jagodas Taten die Augen, da ihre „Freundschaft“ mit der
Sowjetunion ihre eigene Autorität garantierte. Noch vor kaum einem Jahr waren
diese Herren keineswegs der Ansicht, Stalinismus und Trotzkismus seien ein und
dasselbe. Sie erklärten sich offen für Stalin, für seine Realpolitik, für seine
Gerichtsbarkeit und für seinen Jagoda. An diese Position klammerten sie sich,
solange es ging.
Bis zum Augenblick der
Hinrichtung Tuchatschewskis, Jakirs
und der anderen beobachtete die Großbourgeoisie der demokratischen Länder nicht
ohne Vergnügen, wenn auch mit einer Mischung Unbehagen, die Hinrichtung der
Revolutionäre in der Sowjetunion. In diesem Sinne entsprachen The Nation und The New Republic, von Duranty, Louis Fischer
und dergleichen Prostituierten der Feder gar nicht zu reden, voll und ganz den
Interessen des „demokratischen“ Imperialismus. Die Hinrichtung der Generäle
beunruhigte die Bourgeoisie und zwang sie zu verstehen, daß
die fortschreitende Zersetzung des stalinistischen Apparats Hitler, Mussolini
und dem Mikado die Aufgabe erleichtert. Die New York Times begann vorsichtig, aber hartnäckig, ihren eigenen Duranty zu korrigieren. Die Pariser Temps stellte einige Spalten
zur Verfügung, um Licht auf die Lage in der Sowjetunion zu werfen. Die
kleinbürgerlichen Moralisten und Sykophanten waren
schon von jeher nichts anderes als das dienstfertige Echo der
Kapitalistenklasse. Außerdem wurde es nach der Urteilsverkündung der
Internationalen Untersuchungskommission unter dem Vorsitz von John Dewey für
jeden Menschen mit auch nur einer Spur von Denkvermögen klar, daß die weitere offene Verteidigung der GPU mit der Gefahr
des politischen und moralischen Todes gleichbedeutend war. Erst in diesem
Augenblick entschlossen sich die „Freunde“, die ewigen moralischen Wahrheiten
auf Gottes schöner Erde einzuführen, d.h. sich in die zweite
Schützengrabenlinie zurückzuziehen.
Nicht den letzten Platz unter
den Moralisten nehmen erschrockene Stalinisten und Halb-Stalinisten ein. Eugene
Lyons lebte Jahre hindurch mit der thermidorianischen
Clique im schönsten Einvernehmen und fühlte sich beinahe selbst als Bolschewik.
Als er sich – aus welchem Grunde ist uns gleichgültig – vom Kreml zurückzog,
schwebte er natürlich sofort in den Wolken des Idealismus. Liston
Hook erfreute sich bis vor kurzem eines solchen Vertrauens von Seiten der Komintern, daß sie ihn mit der
Führung der englischsprachlichen Propaganda für das
republikanische Spanien beauftragte. Das hinderte ihn natürlich nicht daran, sobald
er einmal seinen Posten aufgegeben hatte, gleichzeitig das marxistische ABC
aufzugeben. Der heimatlose Walter Kriwitzki schloß
sich nach seinem Bruch mit der GPU ohne Umschweife der bürgerlichen Demokratie
an. Augenscheinlich ist dies auch die Metamorphose des hochbejahrten Charles
Rappoport. Leute dieses Schlages – und sie sind zahlreich – suchen, nachdem sie
den Stalinismus über Bord geworfen haben, in den Postulaten der abstrakten
Sittenlehre eine Entschädigung für die von ihnen erlebten Enttäuschungen und
die ihren Idealen zugefügten Erniedrigungen. Fragt sie: „Warum habt ihr das
Lager der Komintern oder der GPU mit dem der
Bourgeoisie vertauscht?“ Ihre Antwort ist bereit: „Der Trotzkismus ist nicht
besser als der Stalinismus“.
Die Anordnung der politischen
Schachfiguren
„Trotzkismus ist
revolutionäre Romantik; Stalinismus – Realpolitik.“ Von dieser banalen
Gegenüberstellung, mit der der durchschnittliche Philister bis gestern seine
Freundschaft mit dem Thermidor gegen die Revolution
rechtfertigte, bleibt heute auch nicht die Spur zurück. Trotzkismus und
Stalinismus werden überhaupt nicht mehr einander gegenübergestellt, sondern
miteinander identifiziert. Sie werden jedoch nur der Form, nicht dem Wesen nach
miteinander identifiziert. Nachdem sich die Demokraten auf den Meridian des
„kategorischen Imperativs“ zurückgezogen haben, fahren sie in Wirklichkeit
fort, die GPU zu verteidigen, nur auf eine verstecktere
und perfidere Art. Wer das Opfer verleumdet, hilft dem Henker. Hier wie sonst
dient die Moral der Politik.
Der demokratische Philister
und der stalinistische Bürokrat sind, wenn nicht gerade Zwillinge, so doch
Brüder im Geiste. Jedenfalls gehören sie dem gleichen politischen Lager an. Das
gegenwärtige Regierungssystem in Frankreich und – wenn wir die Anarchisten
hinzurechnen – in Spanien hat die Zusammenarbeit von Stalinisten,
Sozialdemokraten und Liberalen zur Grundlage. Die britische Unabhängige
Arbeiterpartei sieht nur deshalb so mitgenommen aus, weil sie sich eine Reihe
von Jahren hindurch der Umarmung durch die Komintern
nicht entzogen hat. Die französische Sozialistische Partei schloß
die Trotzkisten gerade zu der Zeit aus ihren Reihen aus, als sie die
Verschmelzung mit den Stalinisten vorbereitete. Wenn die Verschmelzung bisher
nicht zustande kam, so nicht wegen prinzipieller Meinungsverschiedenheiten –
welche bleiben noch übrig? – sondern weil die sozialdemokratischen Karrieristen
für ihre Posten fürchteten. Norman Thomas erklärte nach seiner Rückkehr aus
Spanien, daß die Trotzkisten „objektiv“ Franco
helfen, und mit dieser subjektiven Absurdität leistete er den GPU-Henkern einen objektiven Dienst. Dieser Gerechte schloß die amerikanischen „Trotzkisten“ genau zu dem
Zeitpunkt aus seiner Partei aus, als die GPU deren Gesinnungsgenossen in der
Sowjetunion und in Spanien niedermachte. Trotz ihrer „Amoral“ sind die
Stalinisten in vielen demokratischen Ländern mit Erfolg in den
Regierungsapparat eingedrungen. In den Gewerkschaften leben sie im besten
Einvernehmen mit Bürokraten anderer Schattierungen. Zwar nehmen die Stalinisten
eine äußerst leichtfertige Haltung gegenüber dem Strafgesetzbuch ein und
schrecken dadurch ihre „demokratischen“ Freunde in friedlichen Zeiten ab; aber
unter außerordentlichen Umständen werden sie um so sicherer die Führer der
Kleinbourgeoisie gegen das Proletariat, wie es das spanische Beispiel zeigt.
Die Zweite und die
Amsterdamer Internationale übernahmen natürlich nicht die Verantwortung für die
Justizverbrechen; dies überließen sie der Komintern.
Sie selbst verhielten sich ruhig. Privat erklärten sie, daß
sie vom Standpunkt der „Moral“ gegen Stalin seien, vom Standpunkt der Politik
jedoch – für ihn. Erst als die Volksfront in Frankreich unheilbare Risse bekam
und die Sozialisten sich gezwungen sahen, an den morgigen Tag zu denken, fand
Leon Blum auf dem Boden seines Tintenfasses die geeignete Formulierung seiner
moralischen Entrüstung.
Otto Bauer verurteilte
schonungsvoll die Wyschinskysche Rechtsprechung, nur
um Stalins Politik mit desto größerer „Unparteilichkeit“ unterstützen zu
können. Das Schicksal des Sozialismus, erklärte Bauer kürzlich, ist mit dem
Schicksal der Sowjetunion verbunden. „Und das Schicksal der Sowjetunion“, fährt
er fort, „ist das Schicksal des Stalinismus, so lange nicht (!) die innere
Entwicklung der Sowjetunion selbst die stalinistische Phase der Entwicklung
überwindet“. In diesem bemerkenswerten Satz spiegelt sich der ganze Bauer, der
ganze Austromarxismus, die ganze Heuchelei und
Fäulnis der Sozialdemokratie! „So lange“ die stalinistische Bürokratie genügend
stark ist, die fortschrittlichen Vertreter der „inneren Entwicklung“
abzuschlachten, hält Bauer mit Stalin. Wenn die revolutionären Kräfte Bauer zum
Trotz Stalin stürzen, dann wird Bauer großzügig die „innere Entwicklung“
anerkennen – d.h. mit einer Verspätung von wenigstens 10 Jahren.
Hinter den alten
Internationalen zottelt das Londoner Büro der Zentristen einher, welches die
Merkmale eines Kindergartens, einer Schule für geistig zurückgebliebene
Jünglinge und eines Invalidenheims harmonisch in sich vereint. Der Sekretär des
Büros, Fenner Brockway,
begann mit der Erklärung, daß eine Untersuchung der
Moskauer Prozesse „der Sowjetunion schaden“ könne, und schlug stattdessen eine
Untersuchung ... der politischen Tätigkeit Trotzkis durch eine „unparteiische“
Kommission vor, die aus fünf unversöhnlichen Gegnern Trotzkis bestehen sollte.
Brandler und Lovestone solidarisierten sich
öffentlich mit Jagoda, sie zogen sich erst von Jeschow
zurück. Jacob Walcher weigerte sich unter einem
offensichtlich falschen Vorwand, vor der von John Dewey geleiteten
Internationalen Untersuchungskommission eine für Stalin ungünstige
Zeugenaussage zu machen. Die verfaulte Moral dieser Leute ist nur ein Produkt
ihrer verfaulten Politik.
Die erbärmlichste Rolle
dürften jedoch die Anarchisten spielen. Wenn Stalinismus und Trotzkismus ein
und dasselbe sind, wie sie in jedem Satz behaupten, weshalb sind dann die
spanischen Anarchisten den Stalinisten dabei behilflich, sich an den
Trotzkisten und gleichzeitig an den revolutionären Anarchisten zu rächen? Die
ehrlicheren unter den anarchistischen Theoretikern antworten: damit bezahlen
wir die Waffenlieferungen. Mit anderen Worten: das Ziel heiligt die Mittel.
Aber was ist ihr Ziel? Die Anarchie? Der Sozialismus? Nein, nur die Rettung
eben derselben bürgerlichen Demokratie, die den Erfolg des Faschismus
vorbereitete. Niedrigen Zielen entsprechen niedrige Mittel. Das ist die
wirkliche Stellung der Figuren auf dem politischen Schachbrett der Welt!
Der Stalinismus – ein Produkt der alten
Gesellschaft
Rußland machte den grandiosesten
Sprung vorwärts in der Geschichte, einen Sprung, in dem die fortschrittlichen
Kräfte des Landes ihren Ausdruck fanden. In der gegenwärtigen Reaktion, deren
Schwung dem der Revolution proportional ist, nimmt die Rückständigkeit ihre
Rache. Der Stalinismus verkörpert diese Reaktion. Die Barbarei der alten
russischen Gesellschaft auf neuen sozialen Grundlagen erscheint um so
ekelhafter, als sie gezwungen ist sich hinter einer in der Geschichte
beispiellosen Heuchelei zu verstecken.
Die Liberalen und
Sozialdemokraten des Westens, die die russische Revolution gezwungen hatte an
ihren vermoderten Ideen zu zweifeln, bekamen nunmehr neuen Mut. Das moralische
Krebsgeschwür der stalinistischen Bürokratie schien ihnen eine
Wiederherstellung des Liberalismus zu sein. Stereotype Sprüchlein werden ans
Tageslicht gezogen: „Jede Diktatur enthält den Keim ihrer eigenen Entartung“,
„nur die Demokratie garantiert die Entwicklung der Persönlichkeit“, und so
weiter. Vom theoretischen Standpunkt gesehen verblüfft einen die
Gegenüberstellung von Demokratie und Diktatur, die im gegebenen Fall eine
Verurteilung des Sozialismus zu Gunsten der bürgerlichen Demokratie
einschließt, durch ihren Grad an Unwissenheit und Gewissenlosigkeit. Die
Schande des Stalinismus, eine historische Realität, wird der Demokratie, einer suprahistorischen Abstraktion, gegenübergestellt. Jedoch
besitzt die Demokratie ebenfalls ihre Geschichte, in der es nicht an
Schändlichkeiten fehlt. Um die Sowjetbürokratie zu charakterisieren, haben wir
die Bezeichnungen Thermidor und Bonapartismus
der Geschichte der bürgerlichen Demokratie entlehnt, weil – mögen die
verspäteten liberalen Doktrinäre dies zur Kenntnis nehmen, – die Demokratie
keineswegs auf demokratischem Weg zur Welt gekommen ist. Nur ein vulgärer Geist
kann sich damit begnügen, auf dem Thema herumzukauen, daß
der Bonapartismus „der natürliche Sprößling“
des Jakobinertums war, die historische Strafe für die
Verletzung der Demokratie und ähnliches mehr. Ohne die jakobinische
Vergeltung am Feudalismus wäre die Entstehung der bürgerlichen Demokratie
absolut undenkbar. Die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen den konkreten
historischen Etappen des Jakobinertums, des Thermidors und Bonapartismus und
der idealisierten Abstraktion der „Demokratie“ ist ebenso fehlerhaft wie die
Konstruktion eines Gegensatzes zwischen den Geburtswehen und dem lebendigen
Kind.
Der Stalinismus ist
seinerseits keine Abstraktion der „Diktatur“, sondern die ungeheure
bürokratische Reaktion gegen die proletarische Diktatur in einem rückständigen
und isolierten Land. Die Oktoberrevolution vernichtete die Privilegien, führte
Krieg gegen die soziale Ungleichheit, ersetzte die Bürokratie durch die
Selbstverwaltung der Arbeiter, schaffte die Geheimdiplomatie ab, erstrebte die
völlige Durchsichtigkeit aller sozialen Verhältnisse. Der Stalinismus führte
die widerwärtigsten Privilegien wieder ein, verlieh der Ungleichheit einen
provokatorischen Charakter, erstickte die Selbsttätigkeit der Massen in einem
Polizeiabsolutismus, machte aus der Verwaltung ein Monopol für die
Kremloligarchie und erneuerte den Machtfetischismus in einer Art und Weise, wie
es sich die absolute Monarchie nicht hätte träumen lassen.
Die soziale Reaktion ist, wo
immer sie auftritt, gezwungen, ihre wahren Ziele zu verstecken. Je schärfer der
Übergang von der Revolution zur Reaktion, je abhängiger die Reaktion von den
Traditionen der Revolution, d.h. je größer ihre Furcht vor den Massen – desto
mehr ist sie gezwungen, im Kampf gegen die Vertreter der Revolution zu Lüge und
Fälschung zu greifen. Die stalinistischen Justizmorde sind kein Ergebnis der
bolschewistischen „Amoral“. Wie alle bedeutenden Ereignisse in der Geschichte
sind sie ein Produkt des konkreten sozialen Kampfes, und zwar des perfidesten
und erbittertsten von allen: des Kampfes einer neuen
Aristokratie gegen die Massen, die sie zur Macht brachten.
Es erfordert wirklich eine
bodenlose intellektuelle und moralische Stumpfheit, die reaktionäre
Polizeimoral des Stalinismus mit der revolutionären Moral der Bolschewiken zu
identifizieren. Die Partei Lenins hat seit langem aufgehört zu existieren – sie
wurde zwischen inneren Schwierigkeiten und dem Weltimperialismus zerrieben. An
ihrer Stelle erhob sich die stalinistische Bürokratie, dieser
Übertragungsmechanismus des Imperialismus. Die Bürokratie ersetzte im
Weltmaßstab den Klassenkampf durch die Klassenzusammenarbeit, den
Internationalismus durch den Sozialpatriotismus. Um die herrschende Partei den
Aufgaben der Reaktion anzupassen, „erneuerte“ die Bürokratie ihre
Zusammensetzung, indem sie Revolutionäre hinrichtete und Karrieristen
rekrutierte.
Jede Reaktion erneuert, nährt
und kräftigt diejenigen Elemente der historischen Vergangenheit, denen die
Revolution einen Streich versetzte, ohne sie endgültig überwinden zu können.
Die Methoden des Stalinismus treiben alle jene Methoden der Lüge, Brutalität
und Gemeinheit, die den Herrschaftsmechanismus einer jeden Klassengesellschaft,
unter Einschluß auch der Demokratie, darstellen, zu
ihrer höchsten Spannung, zur Kulmination und dadurch zur Absurdität. Der
Stalinismus ist nichts als eine Sammlung aller Ungeheuerlichkeiten des
historischen Staates, dessen boshafteste Karikatur und abscheulichste Grimasse.
Wenn die Vertreter der alten Gesellschaft dem Krebsgeschwür des Stalinismus
puritanisch eine sterilisierte demokratische Abstraktion gegenüberstellen,
können wir ihnen, wie der gesamten alten Gesellschaft, mit vollem Recht
empfehlen, sich in dem verzerrten Spiegel des Sowjetthermidors
selbst zu bewundern. Zwar übertrifft die GPU in der Nacktheit ihrer Verbrechen
bei weitem alle anderen Herrschaftsformen. Aber das erklärt sich aus dem
ungeheuren Ausmaß der Ereignisse, die das vom verfallenden Weltimperialismus
umgebene Rußland erschüttern.
Unter den Liberalen und
Radikalen gibt es eine Reihe von Leuten, die sich die Methode der
materialistischen Interpretation der Ereignisse angeeignet haben und sich
selbst für Marxisten halten. Dies hindert sie jedoch nicht daran, bürgerliche
Journalisten, Professoren oder Politiker zu bleiben. Ein Bolschewik, der die
materialistische Methode nicht auch in der Sphäre der Moral anwendet, ist
natürlich unvorstellbar. Aber diese Methode dient ihm nicht allein zur
Interpretation der Ereignisse, sondern in erster Linie zur Schaffung der
revolutionären Partei des Proletariats. Ohne völlige Unabhängigkeit von der
Bourgeoisie und ihrer Moral ist diese Aufgabe unmöglich zu erfüllen. Jedoch
regiert gegenwärtig die bürgerliche öffentliche Meinung in vollem Ausmaß über
die offizielle Arbeiterbewegung, von William Green in den Vereinigten Staaten
über Léon Blum und Maurice Thorez in Frankreich bis
zu Garcia Oliver in Spanien. In dieser Tatsache findet der reaktionäre
Charakter der gegenwärtigen Periode seinen schärfsten Ausdruck.
Ein revolutionärer Marxist
kann eine historische Mission nicht beginnen, ohne moralisch mit der
bürgerlichen öffentlichen Meinung und deren Agenturen im Proletariat gebrochen
zu haben. Hierzu ist moralischer Mut eines ganz anderen Kalibers erforderlich,
als in Versammlungen den Mund aufzureißen und „Nieder mit Hitler!“,“Nieder
mit Franco!“ zu schreien. Eben dieser entschlossene, völlig durchdachte,
unbeugsame Bruch der Bolschewiken mit der konservativen Moralphilosophie
versetzt den demokratischen Phrasendreschern, Salonpropheten und
Kaffeehaushelden einen tödlichen Schreck. Hieraus leiten sich ihre Klagen über
die „Amoral“ der Bolschewiken ab. Daß diese Leute
bürgerliche Moral mit Moral „im allgemeinen“ identifizieren, kann vielleicht am
besten auf dem äußersten linken Flügel der Kleinbourgeoisie, bei den
zentristischen Parteien des sogenannten Londoner Büros, nachgewiesen werden. Da
diese Organisation das Programm der proletarischen Revolution anerkennt“,
scheinen unsere Differenzen mit ihr auf den ersten Blick zweitrangiger Natur.
In Wirklichkeit ist ihre „Anerkennung“ wertlos, weil sie sie zu nichts
verpflichtet. Sie anerkennen“ die proletarische Revolution, wie die Kantianer den kategorischen lmperativ
anerkennen, d.h. als ein heiliges Prinzip, das jedoch im täglichen Leben
unanwendbar ist. In der Sphäre der praktischen Politik vereinigen sie sich mit
den schlimmsten Feinden der Revolution (Reformisten und Stalinisten) zum Kampf
gegen uns. Ihr ganzes Denken ist mit Doppelzüngigkeit und Lüge durchtränkt.
Wenn sich die Zentristen im allgemeinen nicht zu größeren Verbrechen
aufschwingen, so nur, weil sie ewig auf den Seitenwegen der Politik verbleiben:
sie sind sozusagen kleine Taschendiebe der Geschichte. Eben deshalb fühlen sie
sich berufen, die Arbeiterbewegung mit einer neuen Moral zu regenerieren.
Auf dem äußersten linken
Flügel dieser „linken“ Brüderschaft steht eine kleine und politisch völlig
bedeutungslose Gruppe deutscher Emigranten, die das Blatt 'Neuer Weg'
herausgeben. Laßt uns tiefer hinabsteigen und diesen
„revolutionären“ Anklägern der bolschewistischen „Amoral“ lauschen. In einem
zweideutigen und halb lobenden Ton erklärt der 'Neue Weg', daß
sich die Bolschewiken von den anderen Parteien durch ihren Verzicht auf
Heuchelei vorteilhaft unterscheiden – sie bekennen sich offen zu dem Prinzip,
das andere nur schweigend anwenden, nämlich „Der Zweck heiligt die Mittel“.
Aber nach der Überzeugung des 'Neuen Weg' ist dieser „bürgerliche“ Satz mit
einer „gesunden sozialistischen Bewegung“ unvereinbar. „Die Lüge und
Schlimmeres sind keine erlaubten Kampfmittel, wie Lenin noch annahm“. Das Wort
„noch“ bedeutet augenscheinlich, daß Lenin seine
Irrtümer nur deshalb nicht überwand, weil er die Entdeckung des Neuen Weg nicht
mehr erlebte.
In der Formulierung: „Lüge
und Schlimmeres“ bedeutet „Schlimmeres“ offenbar Gewalt, Mord und so weiter, da
unter gleichen Bedingungen Gewalt schlimmer ist als Lüge, und Mord – die
extremste Form der Gewalt. Wir kommen also zu dem Schluß,
daß Lüge, Gewalt und Mord mit einer „gesunden
sozialistischen Bewegung“ unvereinbar sind. Was ist jedoch unsere Beziehung zur
Revolution? Der Bürgerkrieg ist der grausamste aller Kriege. Er ist unter den
heutigen Bedingungen der Technik nicht nur ohne Gewalt gegen Unbeteiligte,
sondern selbst ohne Mord an Greisen und Kindern unvorstellbar. Muß man an Spanien erinnern? Die einzig mögliche Antwort
der „Freunde“ des republikanischen Spanien lautet: Bürgerkrieg ist besser als
faschistische Sklaverei. Aber diese vollkommen richtige Antwort bedeutet nur, daß der Zweck (Demokratie oder Sozialismus) unter gewissen
Bedingungen solche Mittel wie Gewalt und Mord heiligt. Von Lügen gar nicht zu
reden! Ein Krieg ohne Lügen ist ebenso unvorstellbar wie eine Maschine ohne Öl.
Um die Cortessitzung (1. Februar 1938) vor faschistischen Bomben zu schützen,
belog die Barcelonaer Regierung sogar mehrmals vorsätzlich die Journalisten und
ihre eigene Bevölkerung. Hätte sie überhaupt anders handeln können? Wer das
Ziel Sieg über Franco, akzeptiert, muß auch das Mittel
akzeptieren: den Bürgerkrieg mit seinem Gefolge von Schrecken und Verbrechen.
Aber nichtsdestoweniger sind doch Lüge und Gewalt „an sich“ zu verurteilen?
Selbstverständlich: ebenso wie die Klassengesellschaft, die sie erzeugt. Eine
Gesellschaft ohne soziale Widersprüche wird natürlich eine Gesellschaft ohne
Lüge und Gewalt sein. Doch kann man zu dieser Gesellschaft nicht anders eine
Brücke schlagen, als unter Anwendung von revolutionären, d.h. gewaltsamen
Mitteln. Die Revolution ist selbst ein Produkt der Klassengesellschaft und
trägt notwendigerweise deren Züge. Vom Standpunkt der „ewigen Wahrheiten“ ist
die Revolution natürlich „unmoralisch“. Aber das besagt nur, daß die idealistische Moral konterrevolutionär ist, d.h. im
Dienst der Ausbeuter steht.
„Der Bürgerkrieg“, wird der
verdutzte Philosoph vielleicht antworten, „ist aber eine beklagenswerte
Ausnahme. In Friedenszeiten sollte jedoch eine gesunde sozialistische Bewegung
ohne Gewalt und Lügen auskommen können“. Eine derartige Antwort stellt jedoch nur
eine pathetische Ausflucht dar. Es gibt keine unüberschreitbare
Grenzlinie zwischen „friedlichem“ Klassenkampf und Revolution. Jeder Streik
enthält alle Elemente des Bürgerkriegs im Keim. Jede Seite versucht, den Gegner
durch eine übertriebene Darstellung ihrer Kampfentschlossenheit und ihrer
materiellen Hilfsquellen zu beeindrucken. Durch ihre Presse, Agenten und Spione
tun die Kapitalisten ihr Möglichstes, die Streikenden einzuschüchtern und zu demoralsieren. Die Streikwachen der Arbeiter sind ihrerseits
gezwungen, wo Überzeugung nicht hilft, zur Gewalt zu greifen. So sind „Lüge und
Schlimmeres“ vom Klassenkampf, selbst in seiner elementarsten Form, nicht zu
trennen. Dem bleibt hinzuzufügen, daß selbst die
Begriffe von Wahrheit und Lüge aus sozialen Widersprüchen geboren wurden.
Die Revolution und die Einrichtung
der Geisel
Stalin verhaftet und
erschießt die Kinder seiner Gegner, nachdem diese Gegner auf Grund falscher
Anklagen hingerichtet worden sind. Diejenigen Sowjetdiplomaten, die sich einen
Ausdruck des Zweifels an der Unfehlbarkeit Jagodas oder Jeshows
erlaubten, zwingt Stalin, aus dem Ausland zurückzukehren, indem er ihre
Familien als Geiseln nimmt. Die Moralisten des Neuen Weg halten es für notwendig und an der Zeit, uns bei dieser
Gelegenheit an die Tatsache zu erinnern, daß Trotzki
im Jahre 1919 „ebenfalls“ ein Gesetz über Geiseln einführte Aber hier müssen
wir wörtlich zitieren: „Die Haftbarmachung
unschuldiger Angehöriger durch Stalin ist eine abscheuliche Barbarei. Sie
bleibt es aber auch, wenn sie von Trotzki dekretiert ist (1919).“ Da haben wir
die idealistische Moral in ihrer ganzen Schönheit! Ihre Kriterien sind so
falsch wie die Normen der bürgerlichen Demokratie – in beiden Fällen wird
Gleichheit dort vorausgesetzt, wo es in Wirklichkeit nicht die Spur davon gibt.
Wir wollen hier nicht auf der
Tatsache bestehen, daß das Dekret von 1919 kaum zu
einer einzigen Hinrichtung von Angehörigen jener Offiziere führte, deren Verrat
nicht nur den Verlust unzähliger Menschenleben verursachte, sondern die
Revolution selbst mit direkter Vernichtung bedrohte. Das ist letzten Endes
nicht die Frage. Wenn die Revolution von Anfang an weniger überflüssige Großmut
entfaltet hätte, wären Hunderttausende von Menschenleben gespart worden. So
oder so trage ich die volle Verantwortung für das Dekret von 1919. Es war eine
notwendige Maßnahme im Kampf gegen die Unterdrücker. Nur im historischen Inhalt
des Kampfes liegt die Rechtfertigung des Dekrets wie im allgemeinen die
Rechtfertigung des Bürgerkriegs, der ebenfalls nicht ohne Berechtigung eine
„abscheuliche Barbarei“ genannt werden kann.
Wir überlassen es einem Emil
Ludwig oder seinesgleichen, das Portrait Abraham Lincolns mit rosigen
Flügelchen an den Schultern zu zeichnen. Lincolns Bedeutung liegt darin, daß er vor den schärfsten Mitteln nicht zurückschreckte,
sobald er sie zur Erreichung des großen historischen Ziels, das der jungen
Nation von der Entwicklung gesteckt wurde, notwendig erachtete. Die Frage geht
nicht einmal darum, welches der beiden kriegführenden Lager die größte Zahl von
Opfern erlitt oder verursachte. Die Geschichte hat verschiedene Maßstäbe für
die Grausamkeit der Nordtruppen und der Südtruppen im Bürgerkrieg. Mögen
verächtliche Eunuchen nicht erzählen, der Sklavenbesitzer, der durch List und
Gewalt den Sklaven in Ketten hält, und der Sklave, der durch List oder Gewalt
die Ketten zerbricht, seien vor dem Gericht der Moral gleich!
Nachdem die Pariser Kommune
in Blut ertränkt worden war und das reaktionäre Gesindel der ganzen Welt deren
Banner in den Kot der Schmähungen und Verleumdungen zog, paßten
sich nicht wenige demokratische Philister der Reaktion an und beschimpften die
Kommunarden wegen der Erschießung von 64 Geiseln mit dem Pariser Erzbischof an
der Spitze. Marx zögerte keinen Augenblick, diese Bluttat der Kommune zu
verteidigen. In einer Adresse des Generalrats der Ersten Internationale, in
deren Zeilen man echte brodelnde Lava verspürt, ruft uns Marx zuerst ins
Gedächtnis, daß die Bourgeoisie im Kampfe sowohl
gegen die Kolonialvölker wie gegen die eigenen arbeitenden Massen Geiseln
genommen hat, danach erinnert er an die systematische Erschießung der
gefangenen Kommunekämpfer durch die wahnsinnige Reaktion und fährt fort:
„...der Kommune blieb nichts übrig, zum Schutz des Lebens dieser Gefangenen,
als zur preußischen Sitte des Geiselngreifens ihre Zuflucht zu nehmen. Das
Leben der Geiseln war aber und abermals verwirkt durch das anhaltende
Erschießen von Gefangenen durch die Versailler. Wie konnte man ihrer noch
länger schonen nach dem Blutbade, womit Mac-Mahons
Prätorianer ihren Einmarsch in Paris feierten? Sollte auch das letzte
Gegengewicht gegen die rücksichtslose Wildheit der Bourgeoisieregierungen die
Ergreifung von Geiseln – zum bloßen Gespött werden.“ So verteidigte Marx die
Hinrichtung der Geiseln, trotzdem hinter seinem Rücken im Generalrat nicht
wenige Fenner Brockways,
Norman Thomas und sonstige Otto Bauers saßen. Aber die Empörung des
Weltproletariats gegen Greuel der Versailler war so
frisch, daß die reaktionären Moralpfuscher vorzogen
zu schweigen und für sie günstigere Zeiten abzuwarten, die leider allzubald eintreffen sollten. Erst nach dem endgültigen
Triumph der Reaktion richteten die kleinbürgerlichen Moralisten zusammen mit
den Gewerkschaftsbürokraten und den anarchistischen Phrasenhelden die Erste
Internationale zu Grunde.
Als die Oktoberrevolution
sich an einer Front von 8000 Kilometern gegen die vereinten Kräfte des
Imperialismus verteidigte, folgten die Arbeiter der ganzen Welt dem Verlauf des
Kampfes mit solch heißer Sympathie, daß es mit großem
Risiko verbunden war, „die abscheuliche Barbarei“ des Geiselngreifens vor ihrem
Forum anzuprangern. Die völlige Entartung der Sowjetunion und der Sieg der
Reaktion in einer Reihe von Ländern mußten
eintreffen, ehe die Moralisten aus ihren Ritzen hervorkrochen
... um Stalin zu helfen. Denn wenn es wahr ist, daß
die Repressalien zum Schutz der Privilegien der neuen Aristokratie den gleichen
moralischen Wert besitzen wie die revolutionären Maßnahmen des
Befreiungskampfes, dann ist Stalin vollkommen gerechtfertigt, wenn ... ja wenn
nicht die proletarische Revolution selbst vollkommen gerichtet ist.
Dabei sind die Herren
Moralisten, die Beispiele für Unmoral in der Geschichte der russischen Revolution
suchen, gleichzeitig gezwungen, ihre Augen vor der Tatsache zu verschließen, daß auch die spanische Revolution zum Geiselngreifen ihre
Zuflucht nahm, wenigstens solange sie eine echte Massenrevolution war. Wenn die
Herren Ankläger es nicht wagen, die spanischen Arbeiter wegen ihrer
„abscheulichen Barbarei“ anzugreifen, so nur, weil der Boden der
Pyrenäenhalbinsel noch zu heiß für sie ist. Es ist unvergleichlich bequemer,
auf 1919 zurückzugehen. Das ist bereits Geschichte: die alten Leute haben vergessen,
und die jungen haben noch nicht gelernt. Aus dem gleichen Grunde kehren
Philister verschiedener Schattierungen mit solcher Hartnäckigkeit zu Kronstadt
und Machno zurück: hier ist ein offener Abzug für
Moralausdünstungen!
“Kaffernmoral“
Man muß
den Moralisten schon darin beipflichten, daß die
Geschichte grausame Wege wählt. Aber welche Konklusion für die praktische
Arbeit ist daraus zu ziehen? Leo Tolstoi empfahl, daß
wir die gesellschaftlichen Konventionen verachten und uns selbst vervollkommnen
sollten. Mahatma Ghandi rät uns, Ziegenmilch zu
trinken. Die „revolutionären“ Moralisten des 'Neuen Weg' sind leider von
ähnlichen Rezepten nicht weit entfernt. „Wir müssen loskommen von jener Kaffernmoral“, predigen sie, „für die Unrecht nur ist, was
der Feind tut“. Ein ausgezeichneter Rat: „Wir müssen loskommen ...“ Tolstoi
empfahl außerdem, daß wir von den Sünden des
Fleisches loskommen sollten. Nach der Statistik zu urteilen, scheint jedoch
diese Empfehlung nicht von Erfolg gekrönt zu sein. Unsere zentristischen
Mannequins haben es fertig gebracht, sich zu einer Moral über den Klassen im
Rahmen der Klassengesellschaften zu erheben. Aber schon seit fast 2000 Jahren
steht geschrieben: „Liebet Eure Feinde“, „Biete auch die andere Backe darn ...“. Und doch ist selbst der heilige römische Vater
bis jetzt vom Haß gegen seine Feinde noch nicht
„losgekommen“. Wahrhaftig, Satan, der Feind der Menschheit, ist mächtig!
Wer die Handlungen der
Ausbeuter und der Ausgebeuteten mit verschiedenen Kriterien mißt,
steht nach Ansicht dieser bemitleidenswerten Mannequins auf dem Niveau der „Kaffernmoral“. Zuallererst ziemt sich solch verächtlicher
Hinweis auf die Kaffern wohl kaum für die Feder eines „Sozialisten“. Ist die
Moral der Kaffern wirklich so schlecht? Hören wir, was die Encyclopaedia
Britannica darüber sagt: „In ihren politischen und
sozialen Beziehungen entfalten sie viel Takt und große Intelligenz; sie sind
bemerkenswert tapfer, kriegerisch und gastfreundlich und waren ehrlich und
rechtschaffen, bis sie durch Kontakt mit den Weißen mißtrauisch,
rachesüchtig und diebisch wurden und außerdem die meisten europäischen Laster
erwarben.“ Man kommt unvermeidlich zu dem Schluß, daß die weißen Missionare, die Prediger der ewigen Moral,
an der Korrumpierung der Kaffern Teil haben.
Wenn wir dem Kaffernsklaven erzählten, wie sich die Arbeiter auf einem
Teil unseres Planeten erhoben und ihre Ausbeuter überrumpelten, würde ihm das
sehr gefallen. Andererseits würde es ihn sehr bekümmern zu entdecken, daß es den Unterdrückern gelang, die Unterdrückten zu
hintergehen. Ein Kaffer, der nicht von weißen Missionaren bis ins Mark
demoralisiert worden ist, wird niemals ein und dieselben abstrakten
Moralvorschriften auf Unterdrücker und Unterdrückte anwenden. Doch wird er
unschwer begreifen, wenn man ihm erklärt, daß es die
Funktion dieser abstrakten Vorschriften ist, die Unterdrückten an der Erhebung
gegen ihre Unterdrücker zu hindern.
Welch lehrreiches
Zusammentreffen: Um die Bolschewiki zu verleumden, müssen die Missionare des Neuen Weg gleichzeitig die Kaffern
verleumden; überdies folgt die Verleumdung in beiden Fällen der offiziellen
bürgerlichen Linie: gegen die Revolutionäre und gegen die farbigen Rassen.
Nein, wir ziehen die Kaffern allen Missionaren, sowohl geistlichen wie
weltlichen, vor!
Wir müssen jedoch das Bewußtsein der Moralisten des Neuen Weg und ähnlicher
Sackgassenpolitiker nicht überschätzen. Die Absichten dieser Leute sind gar
nicht so schlecht. Aber ihren Absichten zum Trotz dienen sie als Hebel im
Mechanismus der Reaktion. In einer Periode wie der heutigen, wo die
kleinbürgerlichen Parteien, die sich an die liberale Bourgeoisie oder deren
Schatten (Volksfrontpolitik) anklammern, das Proletariat paralysieren und dem
Faschismus den Weg bereiten (Spanien, Frankreich ...), werden die Bolschewiken,
d.h. die revolutionären Marxisten, in den Augen der bürgerlichen öffentlichen
Meinung besonders verhaßt. Fast der gesamte
politische Druck unserer Zeit geht von rechts nach links. Letzten Endes trägt
eine winzige revolutionäre Minderheit das ganze Gewicht der Reaktion auf ihren
Schultern. Diese Minderheit heißt Vierte Internationale. Voilà
l'ennemi! Das ist der Feind!
Im Mechanismus der Reaktion
nimmt der Stalinismus viele führende Positionen ein. Alle Gruppen der
bürgerlichen Gesellschaft, einschließlich der Anarchisten, bedienen sich seiner
im Kampf gegen die proletarische Revolution. Gleichzeitig versuchen die
kleinbürgerlichen Demokraten, das Odium für die Verbrechen ihrer Moskauer
Verbündeten wenigstens zu 50% auf die unversöhnliche revolutionäre Minderheit
abzuwälzen. Hierin liegt der Sinn des neuen Modesatzes: „Trotzkismus und
Stalinismus sind ein und dasselbe.“ Die Gegner der Bolschewiken und der Kaffern
helfen auf diese Weise der Reaktion, die Partei der Revolution zu verleumden.
Der „amoralische“ Lenin
Die russischen
„Sozialrevolutionäre“ sind von jeher die moralischen Individuen gewesen: Im
Grunde waren es lauter Ethiker. Das hinderte sie jedoch nicht daran, zur Zeit
der Revolution die russischen Bauern zu betrügen. Im Pariser Organ Kerenskis, dieses wahrhaft ethischen Sozialisten, der
Stalins Vorläufer in der Fabrikation falscher Anklagen gegen die Bolschewiken
war, schreibt ein anderer alter Sozialrevolutionär, Zenzinow:
„Lenin lehrte bekanntlich, daß die Kommunisten zur
Erreichung der von ihnen gewünschten Zwecke zu allen möglichen Listen und
Kniffen und zur Verheimlichung der Wahrheit Zuflucht nehmen könnten und
bisweilen müßten...“. Daraus ergibt sich die rituelle
Schlußfolgerung: Der Stalinismus ist der natürliche Sprößling des Leninismus.
Unglücklicherweise ist der
ethische Ankläger nicht einmal im Stand, ehrlich zu zitieren. Lenin sagte: „Man
muß es verstehen ... zu allen möglichen Listen,
Kniffen, illegalen Methoden, zur Verschweigung, Verheimlichung der Wahrheit
bereit zu sein, um nur in die Gewerkschaften einzudringen, in ihnen zu bleiben
und dort um jeden Preis kommunistische Arbeit zu leisten.“ Die Notwendigkeit
für Listen und Kniffe ergibt sich nach Lenins Erläuterung aus der Tatsache, daß die reformistische Bürokratie die Arbeiter an das
Kapital verrät, die Revolutionäre hetzt und verfolgt und sogar die bürgerliche
Polizei gegen sie in Anspruch nimmt. „Kniffe“ und „Verheimlichung der Wahrheit“
sind in solchem Fall rechtmäßige Waffen der Notwehr gegen die perfide reformistische
Bürokratie.
Die Partei unseres Zenzinow leistete einst illegale Arbeit gegen den Zarismus
und später – gegen die Bolschewiken. In beiden Fällen griff sie zu Listen,
Kniffen, falschen Pässen und anderen Formen der „Verheimlichung der Wahrheit“.
Alle diese Mittel wurden nicht nur als ethisch, sondern auch als heroisch
angesehen, weil sie den politischen Zielen der Kleinbourgeoisie entsprachen.
Aber die Situation ändert sich sofort, sobald die proletarischen Revolutionäre
gezwungen sind, zu konspirativen Maßnahmen gegen die kleinbürgerliche
Demokratie überzugehen. Wie wir sehen, hat der Schlüssel zur Moral dieser
Herren Klassencharakter!
Der „amoralische“ Lenin rät
offen in der Presse, gegen verräterische Führer militärische List anzuwenden.
Und der moralische Zenzinow streicht böswillig Anfang
und Ende vom Zitat, um den Leser zu betrügen: der ethische Ankläger erweist
sich wie gewöhnlich als kleiner Schwindler. Nicht umsonst liebte Lenin zu
wiederholen: es ist sehr schwer, einen gewissenhaften Gegner zu finden!
Ein Arbeiter, der vor dem
Kapitalisten die „Wahrheit“ über die Pläne der Streikenden nicht verbirgt, ist
ein gewöhnlicher Verräter, der Verachtung und Boykott verdient. Der Soldat, der
dem Feind die „Wahrheit“ offenbart, wird als Spion verurteilt. Kerenski versuchte, den Bolschewiken anklägerisch zu
unterschieben, sie hätten Ludendorffs Generalstab die „Wahrheit“ mitgeteilt. Es
scheint, daß selbst die „heilige Wahrheit“ kein Ziel
an sich ist. Über ihr stehen gebieterische Kriterien, die, wie die Analyse
zeigt, Klassencharakter tragen.
Ein Kampf auf Leben und Tod
ist undenkbar ohne militärische List, d.h. ohne Lüge und Betrug. Dürfen denn
die deutschen Arbeiter nicht Hitlers Polizei betrügen? Oder ist vielleicht die
Haltung der russischen Bolschewiken „unmoralisch“, wenn sie die GPU täuschen?
Jeder fromme Bürger applaudiert der Geschicklichkeit der Polizei, wenn es ihr
durch Anwendung von List gelingt, einen gefährlichen Verbrecher zu fassen. Und
im Kampf für den Sturz der imperialistischen Verbrecher sollte die Anwendung
von List verboten sein?
Norman Thomas spricht über
„jene sonderbare kommunistische Amoral, für die nur die Partei und deren Macht
zählen“. Dabei wirft Norman Thomas die heutige Komintern,
d.h. die Verschwörung der Kremlbürokratie gegen die Arbeiterklasse, mit der
bolschewistischen Partei, die die Verschwörung der fortgeschrittenen Arbeiter
gegen die Bourgeoisie verkörperte, auf einen Haufen. Diese durch und durch
unehrliche Nebeneinanderstellung haben wir bereits oben genügend entlarvt. Der
Stalinismus versteckt sich nur hinter dem Kult der Partei; in Wirklichkeit
zertrümmert er die Partei und tritt sie in den Kot. Es stimmt jedoch, daß für einen Bolschewiken die Partei alles bedeutet. Das
überrascht den Salonsozialisten Thomas, denn er verwirft eine solche Beziehung
zwischen Revolutionär und Revolution, weil er selbst nur ein Bürger mit einem
sozialistischen „Ideal“ ist. In den Augen von Thomas und seinesgleichen ist die
Partei nur ein zweitrangiges Instrument für Wahlkombinationen und ähnliche
Zwecke, nicht mehr. Sein persönliches Leben, seine Interessen, Bindungen und
Moralkriterien liegen außerhalb der Partei. Mit feindseliger Verwunderung
blickt er auf den Bolschewiken herab, für den die Partei eine Waffe ist zur
revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft, einschließlich ihrer Moral. Für
einen revolutionären Marxisten kann es zwischen der persönlichen Moral und den
Interessen der Partei keinen Widerspruch geben, da in seinem Bewußtsein die Partei die höchste Aufgaben und Ziele der Menschheit
verkörpert. Es wäre naiv, anzunehmen, Thomas habe eine höhere Auffassung der
Moral als die Marxisten. Er hat nur eine niedrige Konzeption der Partei.
„Alles, was entsteht, ist
wert, daß es zu Grunde geht“, sagt der Dialektiker
Goethe. Der Untergang der bolschewistischen Partei – eine Episode in der
Weltreaktion – schmälert jedoch nicht ihre welthistorische Bedeutung. In der
Periode ihres revolutionären Aufstiegs, d.h. als sie wirklich die proletarische
Avantgarde repräsentierte, war sie die ehrlichste Partei in der Geschichte.
Natürlich täuschte sie den Klassenfeind, wo immer sie konnte; auf der anderen
Seite sagte sie den Arbeitern die Wahrheit, die ganze Wahrheit, und nichts als
die Wahrheit. Nur dank dem gewann sie das Vertrauen der Arbeiter in einem Maße,
wie nie zuvor eine andere Partei in der Welt.
Die Kommis der herrschenden
Klasse nennen die Organisatoren dieser Partei „amoralisch“. In den Augen der bewußten Arbeiter trägt dieser Vorwurf den Charakter eines
Kompliments. Er bedeutet: Lenin weigerte sich, die Moralvorschriften
anzuerkennen, die die Sklavenhalter für ihre Sklaven aufgestellt haben, ohne
sich selbst jemals danach zu richten; er forderte das Proletariat auf, den
Klassenkampf auch auf die Sphäre der Moral auszudehnen. Wer sich den vom Feinde
aufgestellten Vorschriften unterwirft, kann niemals diesen Feind besiegen!
Lenins „Amoral“, d.h. seine
Verwerfung einer Moral über den Klassen, hinderte ihn nicht, sein ganzes Leben
hindurch ein und demselben Ideal treu zu bleiben, sein ganzes Sein der Sache
der Unterdrückten zu widmen, auf dem Gebiet der Ideen die größte
Gewissenhaftigkeit und auf dem der Tat die größte Furchtlosigkeit zu entfalten,
sich dem „gewöhnlichen“ Arbeiter, der schutzlosen Frau, dem Kinde gegenüber
ohne die geringste Spur von Überheblichkeit zu verhalten. Leuchtet es nicht
ein, daß „Amoral“ im gegebenen Fall nur ein Synonym
für eine höhere menschliche Moral ist?
Eine lehrreiche Episode
Hier ist es am Platze, eine
Episode zu berichten, die trotz ihrer bescheidenen Dimensionen den Unterschied
zwischen ihrer Moral und der unsrigen gar nicht so schlecht illustriert. Im
Jahre 1935 entwickelte ich in einem Brief an meine belgischen Freunde die
Auffassung, daß der Versuch einer jungen
revolutionären Partei, „ihre eigenen“ Gewerkschaften zu gründen, Selbstmord
gleichkommt. Man muß die Arbeiter da aufsuchen, wo
sie sind. Aber dann muß man durch seine Beiträge
einen opportunistischen Apparat am Leben erhalten? „Natürlich“, erwiderte ich,
„um das Recht zu erwerben, die Reformisten zu bekämpfen, muß
man ihnen zeitweilig einen Beitrag zahlen“. Aber die Reformisten werden uns
nicht erlauben, sie zu bekämpfen? „Das ist richtig“, erwiderte ich, „der Kampf
erfordert konspirative Maßnahmen. Die Reformisten sind die politische Polizei
der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterklasse. Wir müssen ohne ihre Erlaubnis
und gegen ihr Verbot handeln..“. Bei einer zufälligen Haussuchung im Hause des
Genossen D., wenn ich nicht irre, im Zusammenhang mit der Angelegenheit der
Waffenlieferungen an die spanischen Arbeiter, beschlagnahmte die belgische
Polizei meinen Brief. Nach wenigen Tagen wurde er veröffentlicht. Die Presse Vanderveldes, de Mans und Spaaks schleuderte natürlich ihre Blitze gegen meinen
„Machiavellismus“ und „Jesuitismus“. Und wer sind diese
Ankläger? Vandervelde, Präsident der Zweiten
Internationale im Laufe vieler Jahre, ist seit langem ein zuverlässiger Diener
des belgischen Kapitals. De Man, der in einer Reihe schwerer Wälzer den
Sozialismus mit einer idealistischen Moral veredelte und der Religion den Hof
machte, ergriff die erste beste Gelegenheit, um die Arbeiter zu verraten und
ein gewöhnlicher bürgerlicher Minister zu werden. Spaaks
Fall ist noch reizender. Vor anderthalb Jahren gehörte dieser Herr zur
linkssozialistischen Opposition und besuchte mich in Frankreich, um mit mir die
Methoden des Kampfes gegen die Bürokratie Vanderveldes
zu beraten. Ich vertrat die gleichen Auffassungen, die später mein Brief
enthielt. Doch ein Jahr nach seinem Besuch zog Spaak
die Rosen den Dornen vor. Er verriet seine Genossen von der Opposition und
wurde einer der zynischsten Minister des belgischen Kapitals. In den
Gewerkschaften und in ihrer eigenen Partei erstickten diese Herren jede
kritische Stimme, bestechen und korrumpieren systematisch die fortgeschrittenen
Arbeiter und schließen ebenso systematisch die widerspenstigen aus. Sie
unterscheiden sich von der GPU nur dadurch, daß sie
bisher noch kein Blut vergossen haben – als gute Patrioten sparen sie das
Arbeiterblut für den kommenden imperialistischen Krieg auf. Es ist klar: nur
eine Ausgeburt des Teufels, ein moralisches Scheusal, ein „Kaffer“, ein
Bolschewik kann den Arbeitern raten, im Kampf gegen diese Herren die Regeln der
Konspiration zu beobachten!
Vom Standpunkt des belgischen
Gesetzes enthielt mein Brief natürlich nichts Strafwürdiges. Die
„demokratische“ Polizei hatte die Pflicht, dem Adressaten den Brief mit einer
Entschuldigung zurückzugeben. Die sozialistische Partei hatte die Pflicht,
gegen die Haussuchung zu protestieren, die von der Sorge um die Interessen des
Generals Franco diktiert war. Aber die Herren Sozialisten scheuten sich nicht,
sich der Dienste der unkorrekten Polizei zu bedienen – sonst wäre ihnen ja
schon eine glückliche Gelegenheit entgangen, die Überlegenheit ihrer Moral über
die Amoral der Bolschewiken ein weiteres Mal zur Schau zu stellen. Jede
Einzelheit in dieser Episode ist symbolisch. Die belgischen Sozialdemokraten
schütteten die Kübel ihrer Empörung gerade dann über mich aus, als ihre
norwegischen Gesinnungsgenossen meine Frau und mich hinter Schloß
und Riegel sperrten, um unsere Verteidigung gegen die Anklagen der GPU zu
verhindern. Die norwegische Regierung wußte sehr gut,
daß die Moskauer Anklagen falsch waren: so schrieb es
die offiziöse sozialdemokratische Zeitung in den ersten Tagen offen. Aber
Moskau rührte die norwegischen Schiffsreeder und Fischgroßhändler an ihrer
Brieftasche – und die Herren Sozialdemokraten krochen sofort auf allen Vieren.
Der Führer der Partei, Martin Tranmael ist nicht nur
eine Autorität in Fragen der Moral, sondern offenbar ein rechtschaffener
Mensch: er trinkt nicht, raucht nicht, genießt kein Fleisch und badet im Winter
in einem Eisloch. Das hinderte ihn nicht, nachdem er uns auf Befehl der GPU
hatte verhaften lassen, mich in den Spalten seiner Zeitung durch einen
norwegischen Agenten der GPU, einen gewissen Jakob Fries – einen Kerl ohne Ehre
und Gewissen – zu verleumden. Doch genug.
Die Moral dieser Herrschaften
besteht aus konventionellen Rezepten und Redensarten, hinter denen sie ihre
Interessen, Appetite und Ängste verstecken. Die Mehrzahl von ihnen ist aus
Ehrgeiz oder Gewinnsucht zu jeder Niedrigkeit, wie Verleumdung der Überzeugung,
Treulosigkeit und Verrat, bereit. In der hohen Sphäre persönlicher Interessen
heiligt der Zweck jedes Mittel. Eben deshalb erlangen sie einen besonderen
Moralkodex, dauerhaft und dazu elastisch wie ein guter Hosenträger. Sie
verabscheuen jeden, der ihre Berufsgeheimnisse vor den Massen entlarvt. In
„friedlichen“ Zeiten drücken sie – im Gassenton oder
in „philosophischer“ Sprache – ihren Haß in
Verleumdungen aus. In Zeiten scharfer sozialer Konflikte – wie gegenwärtig in
Spanien – ermorden diese Moralisten Hand in Hand mit der GPU die Revolutionäre.
Um sich vor sich selbst zu rechtfertigen, wiederholen sie: „Trotzkismus und
Stalinismus sind ein und dasselbe.“
Die dialektische Wechselbeziehung
zwischen Ziel und Mittel
Ein Mittel ist nur durch das
mit ihm verfolgte Ziel zu rechtfertigen. Aber das Ziel bedarf seinerseits der
Rechtfertigung. Vom marxistischen Standpunkt, der die historischen Interessen
des Proletariats zum Ausdruck bringt, ist das Ziel gerechtfertigt, wenn es dazu
führt, die Macht des Menschen über die Natur zu vermehren und die Macht des
Menschen über den Menschen zu vernichten.
„Das bedeutet also, daß zur Erreichung dieses Ziels alles erlaubt ist?“ wird
der Philister sarkastisch fragen – und er beweist damit, daß
er nichts begriffen hat. Erlaubt ist, so antworten wir, was wirklich zur
Befreiung der Menschheit führt. Da dieses Ziel nur durch Revolution erreicht
werden kann, trägt die Befreiungsmoral des Proletariats notwendigerweise
revolutionären Charakter. Sie tritt nicht nur jedem religiösen Dogma, sondern
auch allen idealistischen Fetischen, philosophischen Gendarmen der herrschenden
Klasse unversöhnlich entgegen. Ihre Regeln leiten sich aus den
Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft ab, also in erster Linie aus dem
Klassenkampf, dem obersten aller Gesetze.
„Alles gut und schön“, wird
der Moralist hartnäckig erwidern, „aber bedeutet das nun, daß
im Kampf gegen die Kapitalisten alle Mittel erlaubt sind: Lüge, Schwindel,
Verrat, Mord und so weiter?“ Erlaubt und obligatorisch sind jene Mittel, und
nur jene Mittel, so antworten wir, die das revolutionäre Proletariat einen,
seine Herzen mit unversöhnlicher Feindschaft gegen die Unterdrückung erfüllen,
die es lehren, die offizielle Moral und ihre demokratischen Nachbeter zu
verachten, es mit dem Bewußtsein seiner eigenen
historischen Mission erfüllen, seinen Mut und seinen Opfergeist im Kampf heben.
Eben daraus ergibt sich, daß nicht alle Mittel
erlaubt sind. Wenn wir sagen, das Ziel heiligt die Mittel, so ergibt sich für
uns daraus die Schlußfolgerung, daß
das große revolutionäre Ziel solche niedrigen Mittel und Wege verwirft, die
einen Teil des Proletariats gegen andere Teile aufhetzen, oder die Arbeiter
ohne ihr eigenes Zutun glücklich machen wollen, oder das Selbstvertrauen der
Massen und den Glauben an ihre Organisation senken und durch den Führerkult
ersetzen. In erster Linie und absolut unversöhnlich verwirft die revolutionäre
Moral Knechtseligkeit gegenüber der Bourgeoisie und Hochmut gegenüber den
Arbeitern, d.h. jene Eigenschaften, mit denen die kleinbürgerlichen Pedanten
und Moralisten durch und durch getränkt sind.
Diese Kriterien geben
natürlich keine fix und fertige Antwort auf die Frage, was in jedem einzelnen
Fall erlaubt ist und was nicht. Solche automatischen Antworten kann es auch gar
nicht geben. Die Probleme der revolutionären Moral sind mit den Problemen der
revolutionären Strategie und Taktik verbunden Die korrekte Antwort auf diese
Frage gibt die lebendige Erfahrung der Bewegung im Licht der Theorie.
Der dialektische Materialist
kennt keinen Dualismus zwischen Ziel und Mittel. Das Ziel ergibt sich naturnotwendig
aus dem historischen Prozeß. Die Mittel sind dem Ziel
organisch untergeordnet. Das unmittelbare Ziel wird zum Mittel für ein entfernteres Ziel. In seinem Drama Franz von Sickingen legt Ferdinand Lassalle einem der Helden
folgende Worte in den Mund:
„Das Ziel nicht zeige,
zeige auch den Weg. |
Lassalles Verse sind
keineswegs vollkommen. Schlimmer noch ist die Tatsache, daß
Lassalle selbst in der praktischen Politik von oben ausgedrückter Regel abwich
– es genügt, daran zu erinnern, daß er sich selbst
auf geheime Abmachungen mit Bismarck einließ! Aber die dialektische
Wechselbeziehung zwischen Mittel und Ziel ist in oben zitierten Sätzen ganz
richtig zum Ausdruck gebracht. Man muß Weizensamen
säen, um Weizenähren zu ernten.
Ist zum Beispiel vom
Standpunkt der „reinen Moral“ individueller Terror erlaubt oder verboten? In
dieser abstrakten Form existiert die Frage für uns überhaupt nicht. Die
konservativen Schweizer Bürger bezeugen noch heute dem Terroristen Wilhelm Tell
ihr offizielles Lob. Unsere Sympathien sind voll und ganz auf der Seite der
irischen, russischen, polnischen und indischen Nationalisten in ihrem Kampf gegen
nationale und politische Unterdrückung. Der ermordete Kirow, ein roher Satrap,
erweckt keinerlei Sympathie. Unsere Beziehung zum Mörder bleibt nur deshalb
neutral, weil wir die Motive, die ihn leiteten, nicht kennen. Wenn bekannt
werden würde, daß Nikolajew
bewußt für die von Kirow begangene Schändung der
Arbeiterrechte Vergeltung übte, wären unsere Sympathien völlig auf Seiten des
Mörders. Jedoch ist nicht die Frage der subjektiven Motive, sondern die der
objektiven Zweckmäßigkeit für uns entscheidend. Führt das gegebene Mittel
wirklich zum Ziel? Was den individuellen Terror betrifft, bezeugen sowohl
Theorie wie Erfahrung, daß dies nicht der Fall ist.
Dem Terroristen sagen wir: es ist unmöglich, die Massen zu ersetzen, nur in der
Massenbewegung kannst du für deinen Heroismus einen zweckmäßigen Ausdruck
finden. Unter den Bedingungen des Bürgerkriegs hört jedoch die Ermordung
individueller Unterdrücker auf, ein Akt individuellen Terrors zu sein. Nehmen
wir einmal an, ein Revolutionär würde General Franco und seinen Stab in die
Luft sprengen, so würde dies selbst von Seiten der demokratischen Eunuchen wohl
kaum moralische Entrüstung hervorrufen. Unter den Bedingungen des Bürgerkriegs
wäre ein solcher Akt politisch vollkommen zweckmäßig. So erweisen sich selbst in
der schärfsten Frage – dem Mord des Menschen durch den Menschen – die
moralischen Absoluta als untauglich. Die moralischen
Wertungen ergeben sich zusammen mit den politischen aus den inneren
Notwendigkeiten des Kampfes.
Die Befreiung der Arbeiter
kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein. Deshalb gibt es kein größeres
Verbrechen, als die Massen zu täuschen, Niederlagen für Siege und Freunde für
Feinde auszugeben, Arbeiterführer zu bestechen, Legenden zu fabrizieren,
falsche Prozesse zu montieren, in einem Wort: zu tun, was die Stalinisten tun.
Diese Mittel können nur einem Ziel dienen: die Herrschaft einer Clique zu
verlängern, die von der Geschichte bereits verurteilt ist. Aber sie können
nicht dazu dienen, die Massen zu befreien. Deshalb führt die Vierte
Internationale gegen Stalin Kampf auf Leben und Tod.
Die Massen sind natürlich
keineswegs unfehlbar. Idealisierung der Massen liegt uns fern. Wir haben sie
unter verschiedenen Bedingungen, in verschiedenen Epochen und außerdem in den
schwersten politischen Erschütterungen gesehen. Wir haben ihre starken und
schwachen Seiten kennengelernt. Ihre starken Seiten: Entschlossenheit,
Opfergeist, Heroismus, haben immer in Zeiten revolutionären Aufschwungs ihren
klarsten Ausdruck gefunden. In dieser Periode standen die Bolschewiken an der
Spitze der Massen. Danach begann ein anderes Kapitel der Geschichte, das die
schwachen Seiten der Unterdrückten an die Oberfläche spülte: Ungleichartigkeit,
Mangel an Kultur, ein zu beschränkter Gesichtskreis. Die Massen erschlafften
nach der Spannung, wurden enttäuscht, verloren ihr Selbstvertrauen – und
machten der neuen Aristokratie den Weg frei. In dieser Epoche fanden sich die
Bolschewiken („Trotzkisten“) von den Massen isoliert. Wir haben praktisch zwei
solch große historische Zyklen erlebt: 1897-1905, Jahre der Flut; 1907-1913,
Jahre der Ebbe; 1917-1923, die Periode eines in der Geschichte beispiellosen
Aufschwungs, schließlich eine neue Periode der Reaktion, die heute noch nicht
zu Ende ist. In diesen gewaltigen Ereignissen lernten die „Trotzkisten“ den
Rhythmus der Geschichte, d.h. die Dialektik des Klassenkampfes. Sie lernten
auch, und, wie es scheint, bis zu einem gewissen Grade mit Erfolg, wie sie ihre
subjektiven Pläne und Programme diesem objektiven Rhythmus unterzuordnen haben.
Sie lernten, nicht an der Tatsache zu verzweifeln, daß
die Gesetze der Geschichte weder von ihrem persönlichen Geschmack abhängen,
noch ihren Moralkriterien untergeordnet sind. Sie lernten, ihre persönlichen
Wünsche den Gesetzen der Geschichte unterzuordnen. Sie lernten, sich auch von
den mächtigsten Feinden nicht schrecken zu lassen, wenn deren Macht im
Widerspruch zu den Gesetzen der historischen Entwicklung steht. Sie verstehen
es, gegen den Strom zu schwimmen in der tiefen Gewißheit,
daß die neue historische Flut sie an das andere Ufer
tragen wird. Nicht alle werden dieses Ufer erreichen, viele werden ertrinken.
Aber an dieser Bewegung mit offenen Augen und angespanntem Willen teilnehmen –
nur das kann einem denkenden Wesen die höchste moralische Befriedigung
gewähren.
|
Coyoacán D.F., am 16. Februar 1938 |
P.S. Ich schrieb diese Zeilen in jenen Tagen, als mein Sohn, ohne daß ich davon wußte, mit dem Tode
rang. Seinem Angedenken widme ich diese kleine Arbeit, die, so hoffe ich, seine
Zustimmung gefunden hätte. Leo Sedow war ein echter
Revolutionär und verachtete die Pharisäer. – L.T.
Zuletzt aktualiziert
am 22.7.2008
GOOGLE-Suche, neu angeregt von Buntnessel-Paraneua-Bioeule,
Bad Aibling, 13. Mai 2014